Kälbermarkierung in Alesjaure
Über den ersten Teil des Tages gibt es nicht viel zu berichten. Wir schlafen lang und erholsam. Immer, wenn ich kurz aufwache, taucht die Sonne die Siedlung in wunderbar warmes Licht. Zum Frühstück gibt es BP5-Suppe mit Brühe-Pulver und eine anschließende Foto-Sichtung sowie entspanntes Nichtstun. Gegen Mittag raffen wir uns auf und spazieren zur STF-Hütte in 2 Kilometern Entfernung. Dort warten die gewohnten heißen Getränke, Kekse, Schokolade und Chips auf uns. Wir hören auf die Hüttenwärtin: “It doesn’t have to be healthy up here.” – Sie muss es ja wissen!
Am Nachmittag ruhen wir uns aus – die Ruhe vor dem Sturm. Und was für einer! Kurz vor 18 Uhr begrüßen wir die eigentlichen Hausbewohnter in Alesjaure. Zwei Helikopterladungen brinen drei Erwachsene, sechs Kinder, zwei Hunde und Vorräte für drei Wochen mit, die sich auf zwei Häuser verteilen. Innerhalb kürzester Zeit gleicht alles einem Schlachtfeld.
Alle sind unheimlich sympathisch und gastfreundlich und scheinen es nicht im mindesten komisch zu finden, zwei ausländische Gäste am “schlimmsten Tag des Jahres” in ihrem Haus einzuquartieren.
Direkt heute soll tatsächlich eine Kälbermarkierung stattfinden – für uns absolut perfekt. Für die Dorfbewohner aber weniger, sie haben heute schon genug um die Ohren. Zum Abendessen gibt es die beste Falukorv Schwedens aus Jokkmokk mit Nudeln und Ketchup. Damit kann man mich immer glücklich machen!
Etwa 21 Uhr soll es losgehen mit dem Bootstransport. Das Wetter wird nun minütlich schlechter und die Zeit verstreicht. Schließlich lege ich mich noch ein wenig hin. Besonders nachdem ich erfahren habe, dass so eine Kälbermarkierung etwa 5-6 Stunden dauert und uns eine “lange Nacht” versprochen wurde. Um Mitternacht machen wir uns schließlich in Regenkleidung auf den Weg zum See, wo das Boot wartet. Ich glaube, ich war noch nie von so vielen Mücken umgeben. Es ist mild und windstill, der Regen hält die Biester so gar nicht ab.
Auf der anderen Seeseite wird zunächst eine Art Basislager errichtet. Wir bauen ein Lávvu auf, das von einem Lagerfeuer gewärmt wird. Und dann: “The action begins.” Schon zuvor konnte man sehen, wie große Herden von Rentieren mit einem Helikopter und mehreren Quads zum Rentiergehege zusammengetrieben wurden.
Nun befinden sich hier mehrere Hundert Tiere und etwa 50 Rentierzüchter, die mit Lasso Jagd auf ihre Kälber machen. Und das ist nicht einfach: Zunächst muss das Muttertier anhand des Halsbandes oder auch nur an der Ohrmarkierung identifiziert und anschließend das Kalb eingefangen werden. Am Boden haltend wird dann die spezifische Markierung des jeweiligen Züchters ins Kalbsohr eingeritzt. Die Züchter sind konzentriert und fixiert auf die Tiere, so dass wir zum Glück nicht weiter stören. Das ganze Gehege ist in Bewegung: Teilweise kommt eine Herde mit sicher einhundert Rentiere auf mich mit lautem Grunzen zu, um sich dann wie an einem Fels in der Brandung aufzuspalten.
Nach einer Stunde kann ich sagen: Ich habe gefühlt alles gesehen und könnte nun ins Bett gehen. Aber so einfach ist das dann doch nicht: Weitere viele Stunden dauert die Markierung an. Der Regen hat zum Glück aufgehört und es wird mehrfach erwähnt, was für eine schöne Nacht es doch wäre. Und tatsächlich fühle ich mich manchmal wie in eine unwirkliche, gemalte Welt versetzt: Der türkisfarbene See, die sanften und dennoch steilen Hänge, und um mich herum das Grunzen der Rentiere.
Für eine kurze Pause suchen wir unser Lávvu auf und lassen uns mit Keksen und Rentierfleisch bewirten. Gesellschaft leistet uns ein sehr nasser und sehr anhänglicher Hund.
Zurück am Gehege wirkt das Treiben deutlich ruhiger. In den nächsten Stunden spürt man die stetig wachsende Müdigkeit sowohl bei Mensch als auch bei Tier. Immer mehr Rentiere setzen sich einfach und lassen sich nur widerwillig vom schwirrenden Lasso aufscheuchen.
Ich bin unendlich müde und mag mir gar nicht ausmalen, wie sich die vielen Züchter fühlen, die für mehrere Stunden ihren Kälbern nachgejagt sind. Und irgendwann, gegen 6.30 Uhr kommt das Kommando: “It’s over!”. Ganz entgegen Alexanders Befürchtung, dass man die müden Rentiere aus dem Gehege tragen müsse, leert sich die Fläche in Windeseile und alles liegt überraschend schnell verlassen da. Die Züchter verlassen das Gelände mittels Booten und Quads; und wir beide sind plötzlich allein. Wir bauen das Lávvu ab, suchen zwei Mal den nassen entlaufenen Hund und besteigen schließlich das Boot zurück nach Alesjaure.
Noch ein paar mehr Bilder gibt es auf Flickr zu sehen: Zu den Bildern